Häusliche Gewalt ist keine individuelle Angelegenheit und findet in allen sozialen Schichten, Altersklassen und Milieus gleichermaßen statt. Es ist ein gesellschaftliches Problem, von dem durch vorherrschende patriarchale Machtstrukturen insbesondere Frauen und Kinder betroffen sind. Daher ist eine intensive, öffentliche Debatte zu dieser Thematik wichtig. In den vergangenen Monaten haben wir uns als Fraktion mit dem Thema häusliche Gewalt auseinandergesetzt und sind in verschiedenen Online-Veranstaltungen mit Betroffenen sowie unterschiedlichsten Referent*innen in den Austausch gegangen.
Als Abschluss dieser Veranstaltungsreihe organisierten wir am 28. Juni 2021 unseren Online-Kongress „WIR SIND UNSCHLAGBAR – Häusliche Gewalt – Situation, Schutzkonzepte, Prävention“. Unsere Abgeordneten Astrid Rothe-Beinlich, Madeleine Henfling und Laura Wahl diskutierten in verschiedenen Panels mit Vertreter*innen aus Gesellschaft und Wissenschaft die Herausforderungen, vor denen Betroffene von häuslicher Gewalt stehen – sei es bei juristischen Fragen oder im Betroffenenschutz, wie Täter*innenprävention funktionieren kann, welche Perspektiven für Prävention und Schutz gegen häusliche Gewalt in Thüringen existieren und was noch getan werden muss. Durch den Tag führte Moderator Sebastian Haak, Theresa aus unserem Team unterstützte ihn und gab Fragen der Zuschauer*innen in die Diskussionsrunden.
Nach einer musikalischen Grußbotschaft von RADIO HAVANNA sowie einem Grußwort unserer Fraktionsvorsitzenden Astrid Rothe-Beinlich starteten wir in den Tag.
FRAUENFEINDLICHKEIT IN MUSIK & ALLTAG
Zum Einstieg in die Veranstaltung erläuterte Magdalena Fürnkranz, Senior Scientist am Institut für Popularmusik Wien, in ihrem Input wie die sexistische Darstellung von Frauen in der Popmusik zu einer Anhäufung und gesteigerten Normalisierung von frauenverachtendem Vokabular in der Öffentlichkeit sowie in privaten Sphären führen kann. In diesem Kontext, analysierte sie verschiedene Songtexte in der deutschen Musik. Sie bezog sich darüber hinaus auf das Konzept der internalisierten Misogynie, das besagt, dass Frauen, die in einer strukturellen sexistischen Gesellschaft aufgewachsen sind, die Neigung dazu haben, frauenverachtende Gedanken zu reprodozieren. Abschließend wies sie auf zahlreiche Initiativen und Hashtags hin, die über Hass in Songtexten aufmerksam machen, bspw. #UNHATEWOMEN.
HERAUSFORDERUNGEN FÜR EINE EMANZIPIERENDE ANTI-GEWALT-ARBEIT
Im ersten Block der Veranstaltung wurde das Thema Herausforderungen für eine emanzipierende Anti-Gewalt-Arbeit diskutiert. Dabei präsentierte Prof. Dr. Janina Steinert, Professorin für Global Health an der TU München, die vorläufigen Ergebnisse ihrer noch zu publizierenden Studie zur Auswirkung der Corona-Pandemie auf Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschland. Laut Studie waren rund 4,4 Prozent der Frauen während des ersten Lockdowns von sexueller Gewalt betroffen und 4,1 Prozent haben in dieser Zeit körperliche Gewalt erfahren. Darüber hinaus stieg die Kontaktaufnahme zu Hilfeangeboten in den Monaten nach dem Lockdown um rund 25 Prozent an. Das Fazit und die Forderung an die Politik: es braucht generell mehr Beratungs- und Hilfsprogramme, die niedrigschwellig, kostenfrei- und barrierefrei erreichbar sind. Gerade in Krisenzeiten aber müssen die Risikofaktoren Finanzsorgen und intensive familiäre Betreuungssituationen als besondere Belastungen durch spezifische Unterstützungsangebote abgefedert werden. Als weitere Expertin war Birgitta Hentschel aus dem Verein Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen zur Diskussion eingeladen. Sie konstatierte zunächst, dass sich die Zahlen der häuslichen Gewalt seit den 70er Jahren quasi nicht verändert haben, was zeigt, dass es vor allem ein strukturelles Problem ist und wir gegen Stereotypen mehr geschlechterdifferenzierte Bilder und mehr Sensibilisierung auch im Bereich der Internetkriminalität brauchen. Die Aus- und Weiterbildung für die Beschäftigten in den Beratungs- und Hilfeeinrichtungen muss mehr in den Fokus genommen werden. Allerdings mahnt sie auch, dass Familiengerichte und Jugendrichter*innen einen Bedarf an Informationen, Fort- und Weiterbildungen haben. Laut Hentschel muss das Gewaltschutzgesetz geändert werden. Es braucht gute gesetzliche Grundlagen, um Richter*innen das richtige Werkzeug bei Fällen von häuslicher Gewalt an die Hand zu geben. Gleichzeitig muss eine höhere Sensibilisierung im Bereich der Medien erreicht werden, um Rollenstereotype auch in der breiten öffentlichen Wahrnehmung zu verschieben.
In der Abschlussdiskussion erklärte Laura Wahl, Sprecherin für Frauenrechte und Gleichstellungspolitik unserer Fraktion, dass wir schon im ersten Lockdown immer wieder darauf hingewiesen haben, dass die Gefahr von steigenden Gewalttaten allein dadurch besteht, dass Frauen und Kinder weniger Möglichkeiten haben, gewalttätigen Familienmitglieder aus dem Weg zu gehen.
„Männer können natürlich auch von häuslicher Gewalt betroffen sein, aber man muss in Betracht ziehen, dass häusliche Gewalt ein strukturelles Problem ist, das sich durch patriarchal geprägte gesellschaftliche Rollenbilder erklären lässt“, betonte Laura Wahl.
BETROFFENENSCHUTZ UND TÄTER*INNENPRÄVENTION
Im zweiten Block, über Betroffenenschutz und Täter*innenprävention, gab Dagmar Freudenberg vom Deutschen Juristinnenbund und Staatsanwältin i.R., einen Einblick in die Entwicklung des Bürgerlichen Gesetzbuches und wie dies die gesellschaftliche Rollenverteilung, sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau widerspiegelt. Außerdem wurde die Istanbul-Konvention thematisiert. „Gewalt gegen Frauen wurde damit erstmals als Menschenrechtsverletzung und als eine Form der Diskriminierung von Frauen verstanden“, führte Dagmar Freudenberg aus. „Wir müssen Bund, Länder & Kommunen dazu befähigen, diese Konvention auf jeder Ebene umzusetzen.“
Daran anschließend berichtete Thomas Jakob, Sachgebietsleiter Soziale Dienste beim Thüringer Oberlandesgericht, wie Behörden, und Justiz mit häuslicher Gewalt umgehen. In seinem Fachbereich steht die Täter*innenarbeit im Fokus. So konnte er anhand praktischer Beispiele zeigen, wie Täter*innenarbeit in Thüringen funktioniert und welche Herausforderungen es dabei gibt. Dabei betonte er, dass die Staatsanwaltschaften Projekte in ihre Arbeit integrieren sollten, bspw. durch das Anbieten von Bewährungsstrafen bei Projektteilnahme.
In der Diskussion beantwortete unsere innenpolitische Sprecherin Madeleine Henfling die Frage, ob es ein ausreichendes Problembewusstsein bei der Polizei gibt: „Es hat sich viel in den letzten Jahren getan, allerdings hängt es sehr von Einzelpersonen in der Polizei ab, da es nicht ausreichend qualifizierte Polizist*innen gibt. Auf Dienststellen findet man nicht immer die richtigen Ansprechpartner*innen und es gibt nicht genug Aufmerksamkeit in Bezug auf häusliche Gewalt in der Ausbildung der Polizist*innen.“ Sie hob hervor, dass die Stärkung der Interventionsstellen eine sehr wichtige Rolle, auch für die Dienststellen, spielt.
Ein weiteres Problem ist für Madeleine Henfling der Fakt, dass es zu wenig Personal und Strukturen im ländlichen Raum gibt. Als Beispiel nannte sie den Ilm-Kreis, ihren Wahlkreis, in dem es kein einziges Frauenhaus mehr gibt. So müssen Frauen nach gewalttätigen Vorfällen bis nach Erfurt fahren, um Schutz zu suchen. „Die Polizei und auch die Justiz lösen das Problem bei Fällen häuslicher Gewalt nicht allein. Das Umgangs- und Sorgerecht müssen genutzt werden. Dafür sind jedoch funktionierende Netzwerke notwendig, um sowohl Betroffene frühzeitig zu schützen, als auch Täter*innen zu erreichen und Prävention zu leisten“, fasste Madeleine Henfling zusammen.
ZUM STRAFRECHTLICHEN UMGANG MIT HÄUSLICHER GEWALT – MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN DES STRAFRECHTS
Um Einblicke auch aus der juristischen Perspektive zu bekommen, war Lena Gumnior von der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) eingeladen. Sie erklärte, was unter feministischer Rechtspolitik zu verstehen ist und wie Politik unsere Gesetze gerechter gestalten kann. Laut Gumnior ist die Untersuchung unserer bisherigen gesetzlichen Regelungen wichtig, um unsere Rechtspolitik feministisch zu gestalten. „Welche Regelungen müssen wir abschaffen, ändern oder neu schaffen – das sind alles wichtige Fragen.“ Sie betonte zudem die Wichtigkeit der Schaffung von Schutzmechanismen in den Feldern, bei denen vulnerable Gruppen besonders von Ungleichbehandlungen betroffen sind.
Christina Clemm, Rechtsanwältin, Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts beim BMJV, erklärte aus ihrer Sicht, wie man ein besseres Opferschutzprogramm in Strafverfahren gewährleisten kann. Laut Clemm müssen die Verfahren beschleunigt werden. Ein weiteres großes Problem ist die Unterscheidung von Strafrecht und Familienrecht. „Im Familienrecht muss die strafrechtliche Komponente stärker beachtet werden, im §46 StGB fehlen strafverschärfende Motive wie Sexismus und Frauenhass”, zählte Christina Clemm auf. Dafür sind verpflichtende Fortbildungen sowie eine staatlich gut ausgestattete Femizid-Stelle nötig.
In Bezug auf die Situation der häuslichen Gewalt in Thüringen betonte Astrid Rothe-Beinlich, unsere justizpolitische Sprecherin, dass noch viel in der Präventionsarbeit getan werden muss. Sie thematisierte darüber hinaus das Problem der Finanzierung von Frauenhäusern. „Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Finanzierung sollte deshalb auch bundeseinheitlich geregelt werden.“
Abschließend betonte sie: „Wir müssen Mord an Frauen als Mord an Frauen benennen und nicht etwa als „Familientragödie“ oder ähnliches. Die Verniedlichung dieses Problems in der Berichterstattung und in der Umgangssprache muss aufhören. Wir müssen Femizide beim Namen nennen.“
ABSCHLUSSDISKUSSION
Zum Abschluss unserer Veranstaltung war Prof. Dr. Kristina Felicitas Wolff vom Femicide Observation Center Germany eingeladen, um mit Astrid Rothe-Beinlich und Laura Wahl über den Stand der Istanbul-Konvention in Deutschland zu diskutieren – und was noch passieren muss, um die Istanbul-Konvention endlich umzusetzen. „Wir haben im Thüringer Landtag in einer der letzten Plenarsitzungen durch die Regierungsfraktionen einen Antrag zur Umsetzung der Istanbul-Konvention einbringen können. Aber es war kein Selbstläufer und wir haben dafür viel Gegenwind bekommen. Es ist ein erster Schritt, es gibt aber noch viel zu tun“, fasst Laura Wahl zusammen.
Nach einem erfolgreichen Kongress, spannenden Debatten, vielen Fragen der Zuschauer*innen und dem Input der eingeladenen Expert*innen, ist unser nächster Schritt die Erstellung eines Maßnahmenpapiers, das wir im Herbst mit Thüringer Initiativen, Frauenhäusern und betroffenen Akteur*innen in einer Folgeveranstaltung diskutieren wollen.
Wir bedanken uns herzlich bei Magdalena Fürnkranz, Janina Steinert, Birgitta Hentschel, Dagmar Freudenberg, Thomas Jakob sowie Lena Gumnior, Christina Clemm und Kristina Felicitas Wolff für die interessanten Einblicke, bei Sebastian Haak für die Moderation und natürlich bei allen Teilnehmer*innen für die anregende, konstruktive und spannende Debatte.
Unter https://youtu.be/U77Sq1Oo_eQ ist die gesamte Veranstaltung zum Nachschauen verfügbar. Die Zusammenfassung unseres Kongresses gibt es unter https://youtu.be/BQLzuIfC2bU.